Weiß der Geier? Tiervolk am Berg
Der Nürnberger Tiergarten ist angeblich einer der schönsten seiner Art in ganz Deutschland. Aber der Tiergarten am Schmausenbuck ist nichts gegen das Tiervolk, das sich in der Altstadt rumtreibt.
Da gibts Tiere, von denen denkt man gar nicht, dass es sie gibt, wie der Drache, der dem Heiligen Georg am Pilatushaus zu Füßen liegt. Da gibts Löwen an Brunnen und Türen, Hunde über, an und echte vor Haustüren, Elefanten sind an Erkern und Portalen zu finden, und es gibt die gefiederten Kameraden der Lüfte. Allen voran der Storch am Schönen Brunnen. Er weiß, wo er die Kinderlein zu holen hat, die er dann fleißig bringt. Es gibt die – zumindest bei Taubenzüchtern – weltberühmte Nürnberger Bagdette, nach der sich ein Sonderverein der gurrenden Zunft benannt hat. Bei der wbg gibts Spechte, Turmfalken und manchmal sogar Eulen in den Wohnanlagen. Der alkoholliebende Bauer aus dem Knoblauchsland trägt zwei Schnatterer unterm Arm, die ihm mit ihrem Gänsewein das Leben retteten. Auf den Kränen residieren die Krähen und auf der Pegnitz überwintern die Möwen. Offensichtlich ziehen sie im Winter die warmen Bratwurstweggle den Fischbrötchen vor.
Also, wir merken schon: in Nürnberg gibts komische Vögel unterschiedlichster Couleur. Da darf der Geier auf keinen Fall fehlen. Schließlich weiß der Geier bekanntlich sehr viel. Oder alles. Oder nichts. Wo zum Geier aber hockt der Geier in Nürnberg? Wissen Sie’s? Na klar: in seinem Horst am Geiersberg! Seit 1906 hat er dort sein Domizil. Allerdings hockt er da nicht, sondern steht mit ausgebreiteten Schwingen dort – fast wie ein Rauschgoldengel in Ruheposition. So wird der Geier in seiner Haltung schon ein bisschen typischer für Nürnberg. Er schaut wachsam nach vorne, und in seinen Fängen hält er ein Lamm, das seine beiden Jungen ernähren soll. Hat er wahrscheinlich ums Eck in der Lammsgasse abgeholt. Zwischen Lammsgasse und Geiersberg ist ein Teil der Irrerstraße. Die Irrerstraße macht die Viecherei komplett, denn der Irrer ist eine Entwicklung aus Irch, was so viel wie fein gegerbtes Leder bedeutet. Vielleicht sogar vom Elch, dessen Haut in der Weißgerbergasse zu edlen Ledern verarbeitet wurde. Wer auch immer die stinkenden Elchhäute nach Nürnberg brachte.
Jetzt klar, wo der Geiersberg ist? Genau, oberhalb der Weißgerbergasse. Geiersberg, Lammsgasse, Irrerstraße, Weinmarkt. Alles in Reichweite des Neutors. Und weil das Tor einer der wenigen Zugänge in die Stadt war, gab‘s dort natürlich viele Unterkünfte und Wirtshäuser für die Reisenden. In der Geiersbergs-Ecke kam im 17. Jahrhundert ein findiger Wirt auf die Idee, seine Wirtschaft „Zum guldenen Geyerlein“ zu nennen. Ob er sich als Geier sah und seine Gäste als das Aas, von dem er sich ernährte oder umgekehrt, das sei mal dahingestellt. Der Name hat sich jedenfalls auf das ganze Umfeld ausgedehnt. Vielleicht war das Areal aber auch vorher schon so benannt worden und der Wirt griff den Namen auf? Weiß der Geier. Neben dem Wirtshaus zum goldenen Geier gab es noch zwei Gasthäuser in der direkten Nachbarschaft. Durstig musste zum Glück niemand Schlafen gehen. Auch die drei Geierlein nicht.
Traut man sich näher an das Nest der Geiersfamilie heran, und das dürfen Sie, denn unsere Geier tun nichts, sie sind „bloß“ ein Kunstwerk aus der Gießerei Lenz, dann sieht man noch mehr Tiere neben den Vögeln: das Lamm, wie schon erwähnt, ein Frosch, eine Schnecke, eine Eidechse und eine Krabbe. Das Lamm ist im Nest drin und schaut über die Zweige zu uns her, und die andern vier Tiere sind alle am unteren Rand des Podestes, auf dem das Nest steckt. Schaut ein bisschen so aus, als ob ein Storch seine Beute am Kamin runterrutschen hat lassen. Oder als ob die Tiere freiwillig nach oben wollten zu den Geiern. Wer will denn so was? Weiß der Geier … Wie passt das alles zusammen? Gar nicht? Doch, doch. Aber: wir müssen den Geier gedanklich mal gegen einen Pelikan tauschen, dann wird die Sache stimmig.
Obwohl der Pelikan mit Fröschen und Krabben wahrscheinlich erst mal auch nicht mehr am Hut hat als der Geier. Aber ganz viel früher haben die ersten Christen im Pelikan nämlich ein Symbol für Jesus Christus gesehen. Einem frühchristlichem Buch zufolge öffnet der Pelikan mit seinem Schnabel seine Brust und lässt sein Blut auf seine toten Jungen fließen bzw. füttert sie damit. So erweckt er sie zum Leben. Der Löwe brüllt seinen Nachwuchs dafür an, aber der rote Schnabel des Pelikans muss wahrscheinlich auch irgendwie begründet sein. Das Verhalten des Pelikans wurde mit dem Jesu Christi verglichen, der sein Blut und damit sein Leben für die Menschen gab. So wurde der Pelikan ein Symbol für Christus, die Auferstehung und natürlich auch für die caritative Fürsorge. So viel zum Pelikan. Das Lamm ist vor allem als Opfertier bekannt und ist damit auch wieder ein Symbol für Christus, der sich für die Menschen geopfert hat. Schnecke, Echse, Krabbe und Frosch teilen ein Schicksal: sie alle kommen im Frühjahr aus ihrer Schale oder ihrer Winterhaut heraus und symbolisieren ihrerseits die Auferstehung. Wenn Sie sich mal das Sebaldusgrab ansehen, dann finden Sie dort am Fuß Schnecken. Genau deswegen. Auf dem Weg zur Sebalduskirche schauen Sie sich noch die Portale am Rathaus an. Im mittleren Portal ist über dem Adler – noch so ein häufiger Vogel in Nürnberg - ein Pelikan dabei, sich für seine Brut die Brust aufzureißen. Eine Eidechse können Sie auf einem Grabstein auf dem St. Johannisfriedhof entdecken. Zahlreiche ältere Nürnbergerinnen und Nürnberger kamen als Kinder in Begleitung der Großeltern oder der Lehrkraft dorthin um sich die Geschichte rund um die Eidechse und das verstorbene Kind anzuhören. Und wenn Sie irgendwo in der Stadt noch eine Krabbe finden, dann sagen Sie uns Bescheid.
Doch zurück zum Geier. Die Wirtschaft hieß halt „Zum Goldenen Geier“ und nicht „Zum Goldenen Pelikan“. Der Berg ist der Geiersberg, nicht die Pelikanshöhe. Die Nürnberger sind meist sehr pragmatisch, wenn es um eine Namensgebung geht. Denken Sie nur mal drüber nach, warum der Schöne Brunnen Schöner Brunnen heißt …. Also man hat kurzerhand einen Geier in Auftrag gegeben und ihn betrachtet wie einen Pelikan. Das kann auch nicht jeder Vogel von sich sagen. Aber es wäre ja auch schade, wenn wir keinen Geier hätten in Nürnberg. Solange es nicht der Pleitegeier ist. 😉
Text: Erika Wirth
Quellen: u.a. Diefenbacher, Michael und Endres, Rudolf (Hrsg.): Stadtlexikon, 2000
Masa, Elke: Freiplastiken in Nürnberg




